Ist Wasser stärker als Stein?

Zusammenfassung

Dieser Artikel zeichnet die Entstehung und den Verlauf der Hongkonger Proteste 2019/2020 nach, und bietet mit Verweis auf die Bewegungs- und Repressionsforschung eine Einordnung der Entwicklungen. Anhand von Ereignisdaten zu Protestaktivitäten in Hongkong und anhand von Social-Media-Daten werden Mobilisierungserfolge und Demobilisierungstrends analysiert. Die Untersuchung belegt, dass die Protestbewegung nicht durch die Corona-Pandemie, sondern erst durch ein repressives Nationales Sicherheitsgesetz zum Erliegen kam. Ferner wird argumentiert, dass die führungslose Hongkonger Bewegung ihre Stärke in taktischer Innovation und dezentraler Protestorganisation zeigte; die Unfähigkeit der Bewegung, unter schwierigen Bedingungen gewaltlose Disziplin aufrechtzuerhalten, erwies sich jedoch als strategischer Schwachpunkt, und die Entschlossenheit eines übermächtigen Gegners führte zu ihrem (vorläufigen) Scheitern.

Abstract

This article traces the beginning and main developments of the Hong Kong protests in 2019/2020, and it contextualizes these events in academic knowledge on social movements and political repression. Based on events data and social media data, it offers an analysis of mobilisation successes and demobilisation trends. The study shows that the protest movement did not come to a standstill when Hong Kong was hit by the Covid-19 pandemic, it only fizzled out as a result of a repressive national security law. The article argues that the leaderless Hong Kong movement showed its strength in tactical innovation and decentralised protest organisation, but the movement’s inability to maintain non-violent discipline under difficult conditions proved to be a strategic weakness, and the determination of an overpowering opponent led to its (interim) failure.


1. Kontextualisierung

„Be water, my friend.“ Dieses Zitat der Martial-Arts-Legende Bruce Lee war ein Leitspruch der Hongkonger Protestbewegung, die im Sommer 2019 in Reaktion auf ein neues Auslieferungsgesetz anschwoll und erst im Sommer 2020 wieder abebbte. Wie Wasser sollten die Teilnehmenden dieser führungslosen Bewegung sein, die sich über soziale Netzwerke organisierte – formlos, gestaltlos, anpassungsfähig und wirkungsmächtig. Die dezentrale Strategie integrierte unterschiedlichste Protesttaktiken in eine amorphe, aber dennoch zusammenhängende Bewegung. Dieses Vorgehen reflektierte nicht nur Erfahrungen von Hongkonger Demonstrierenden mit Polizeigewalt, sondern antizipierte auch ein mögliches Eingreifen der chinesischen Zentralregierung in Peking. Die Repressionsmethoden der Volksrepublik waren 2019 in der Sonderverwaltungszone Hongkong noch kein Alltag, aber sie waren bereits sehr gut bekannt. Das neue Auslieferungsgesetz, so die Sorge, würde Pekings politische Kontrolle über Hongkong weiter ausbauen und die Bürgerinnen und Bürger der Stadt dem notorischen Rechtssystem der Volksrepublik ausliefern. Eine solche Entwicklung wollte die Protestbewegung verhindern.

Der Aufstand gegen die Peking-nahe Regierung unter Carrie Lam war nicht die erste große Protestwelle in Hongkong. Nur fünf Jahre zuvor dominierten die sogenannten Regenschirm-Proteste das politische Geschehen in der Stadt. Auch diese Proteste richteten sich gegen ein stärkeres Durchgreifen der Pekinger Zentralregierung und forderten demokratische Selbstbestimmung. Regenschirme kamen 2014 deshalb zum Einsatz, weil die Hongkonger Polizei immer wieder Tränengas gegen die Demonstrierenden einsetze. Während der Regenschirm-Proteste setzten sich die Teilnehmenden auch mit dem Konzept des zivilen Ungehorsams und der strategischen Logik unterschiedlicher Protest-Taktiken auseinander (Lee 2015). Insofern sind die Regenschirm-Proteste als ein Vorläufer des dezentralen Protests von 2019/2020 anzusehen.

Sorgen um mögliche Auslieferungen in die Volksrepublik waren erstmals 2003 virulent geworden, fünf Jahre nach der Rückgabe Hongkongs von Großbritannien an die Volksrepublik. Vor dieser Rückgabe war für Hongkong ein weitgehender Sonderstatus verhandelt worden, den Deng Xiaoping mit dem Slogan „Ein Land, zwei Systeme“ betitelt hatte. Die Grundrechte wurden in einer Miniverfassung niedergeschrieben, zudem wurde verhandelt, dass auch die UN-Menschenrechtspakte in der ehemaligen britischen Kolonie weiter Gültigkeit haben sollten, obwohl China kein Vertragspartner war.1 Artikel 23 der Hongkonger Miniverfassung sieht allerdings die Einführung eines Sicherheitsgesetzes vor, in dem der Hongkonger Legislativrat die Bestrafung von politischen Vergehen gegen die Volksrepublik regeln soll: Subversion, Verrat, Aufwiegelung und das Befürworten einer Abspaltung Hongkongs von China. 2003 gab es hierzu erstmals ein konkretes Gesetzesvorhaben, und in Reaktion darauf organisierte eine zivilgesellschaftliche Plattform, die sich Zivile Menschenrechtsfront nennt (民間人權陣線), einen Massenprotest. Sie wählte den 1. Juli als symbolisches Datum und erinnerte so an die Rückgabe Hongkongs von Großbritannien an die Volksrepublik am 1. Juli 1997, sowie an die damals gemachten Versprechen zum Schutz der Menschenrechte in Hongkong (Lee/Chan 2011). Dieselbe Plattform hatte bereits in den Jahren zuvor an jedem 1. Juli eine Demonstration organisiert; in den ersten Jahren waren dies allerdings keine besonders großen Veranstaltungen gewesen. Unter dem Eindruck des drohenden Sicherheitsgesetzes versammelte die Plattform 2003 erstmals eine halbe Million Teilnehmer, und das Gesetzesvorhaben wurde gekippt. Dieser Etappensieg gilt als die Geburtsstunde einer Hongkonger Zivilgesellschaft, die sich gegen den Einfluss der chinesischen Zentralregierung und eine zunehmende Autokratisierung in Hongkong organisiert (Ma 2005). Eine weitere Großdemonstration findet in Hongkong seit drei Jahrzehnten jährlich Anfang Juni zur Erinnerung an das Tiananmen-Massaker von 1989 statt.

Die Geschichte der chinesischen Demokratiebewegung hat mehr als deutlich gemacht, dass der chinesische Parteistaat nicht davor zurückschreckt, die Volksbefreiungsarmee gegen das eigene Volk einzusetzen – und dass die Konzentration vieler Menschen auf einem Platz eine gewaltsame Niederschlagung begünstigt. In der Volksrepublik widersetzen sich seither immer wieder Einzelne der Gewaltherrschaft, angefangen mit dem zur Ikone gewordenen Mann mit weißer Einkaufstüte, der sich im Juni 1989 nach dem Tiananmen-Massaker auf der Chang’an Avenue allein vor eine lange Kolonie Panzer stellte. Er wurde nicht überrollt, aber was danach aus ihm wurde, ist nicht bekannt. Eine Festnahme und die Todesstrafe sind nicht auszuschließen. Der „Tank-Man“, wie der unbekannte Demonstrant seither bezeichnet wird, war nicht der einzige tragische Held, der 1989 impulsiv seinem Gewissen folgte und sich den Panzern widersetzte; sein individueller Widerstand ist vor allem deshalb bekannter als das Handeln anderer, weil er fotografiert wurde, und weil es gelang, das Fotomaterial ins Ausland zu bringen. Da Protestaktionen mehr Macht entfalten, wenn sie medial vermittelt werden, sind sie immer auch ein Kampf um Bilder. Dies gilt auch für die Repression.

Trotz der Reputationsrisiken für die Legitimation im eigenen Land und im Ausland, hat sich der chinesische Parteistaat immer wieder für die gewaltsame Niederschlagung von Protesten entschieden. Ein Beispiel ist die Niederschlagung des Tibetaufstandes von 2008, die keinen langfristigen Reputationsschaden brachte, obwohl damals die Augen der Welt anlässlich der Olympischen Spiele auf China gerichtet waren. Auch andere Formen des Widerstands wurden immer wieder mit Gewalt beantwortet. So bekämpfte der Parteistaat im Juli 2015 die Arbeit von Menschenrechtsanwälten durch landesweite Festnahmen von mehr als 200 Personen. Da die Verhaftungen am 9. Juli starteten, sind sie heute als 709-Festnahmen bekannt. Die Verhaftungswelle und ihre längerfristigen Folgen für die ohnehin schwierige Arbeit von Menschenrechtsanwälten in China wurden auch von Juristen in Hongkong sehr genau beobachtet (siehe zum Beispiel Fu/Zhu 2018).

Und so war bei den Hongkonger Protesten im Sommer 2019 von Anfang an klar, dass die Teilnehmenden nicht nur mit Tränengasangriffen und vorübergehenden Inhaftierungen wegen zivilen Ungehorsams rechnen mussten, sondern dass von Peking forcierte, längere Haftstrafen, Auslieferungen bzw. Entführungen und sogar eine gewaltsame Niederschlagung nicht ausgeschlossen werden konnten. Die Volksbefreiungsarmee schürte diese Ängste, zum Beispiel durch ein Video, das eine in Hongkong stationierte Garnison am 1. August 2019 anlässlich des 92. Gründungstages der Armee auf sozialen Medien postete. In diesem Video üben Soldaten das Vorgehen gegen einen Aufstand, und ein Soldat verkündet unzweideutig auf Kantonesisch – dem Dialekt Hongkongs – dass Demonstranten für die Folgen ihrer Handlungen selbst verantwortlich seien.2

Der Slogan „Be water, my friend“, ruft nicht nach Helden, die sich Gewalt und Verhaftung aussetzen, vielmehr steht er für eine Proteststrategie, die Angriffsflächen vermeidet. Er rät Demonstrierenden, der Gewalt auszuweichen, und erklärt taktische Flexibilität zum Gebot der Stunde. So konnten Mobilisierungshürden minimiert und Hoffnung gestiftet werden: Wenn es der Bewegung gelingen würde wie Wasser zu sein, könnte sie nicht mit einem Gewaltschlag besiegt werden. Sogar ein Erfolg gegen die mächtigen Gegner der Protestbewegung rückte in die Grenzen des Denkbaren, denn steter Tropfen höhlt bekanntlich jeden Stein.

Dieser Artikel zeichnet die Entstehung und Entwicklung der Hongkonger Proteste 2019/2020 nach, und bietet mit Verweis auf die Bewegungs- und Repressionsforschung eine Einordnung der Ereignisse. Insbesondere geht er der Frage nach, wie sich die repressive Antwort Pekings auf die netzwerkbasierte, dezentrale und amorphe Protestbewegung in Hongkong auswirkte. Beendete bereits die Corona-Pandemie die Mobilisierungswucht der Protestbewegung, oder ist das Abflauen der Proteste maßgeblich ein Ergebnis eines neuen, repressiven Sicherheitsgesetzes für Hongkong, das in Peking verabschiedet wurde und am 1. Juli 2020 in Kraft trat?

Untersucht wird diese Frage anhand von Ereignisdaten zu Protestaktivitäten in Hongkong und anhand von Telegram-Daten. Letztere eignen sich für die Untersuchung, weil die Hongkonger Zivilgesellschaft netzwerkbasiert arbeitet und Protestaktivitäten vornehmlich über soziale Medien und insbesondere über Telegram-Gruppen organisiert. Telegram-Daten lassen daher Rückschlüsse auf die Organisationsstärke der Protestbewegung, sowie Mobilisierungs- und Demobilisierungstrends zu, und sie geben Hinweise, wie Protestteilnehmende auf spezifische Ereignisse reagierten.


2. Anlass und Forderungen der Proteste

Im Juni 2019 befasste sich der Legislativrat Honkongs in zweiter Lesung mit einer Gesetzesnovelle, die Auslieferungen von bestimmten Verdächtigten nach Taiwan und Macau sowie in die Volksrepublik China erlaubt hätte. Die geplante Novelle war für viele Hongkonger Bürgerinnen und Bürger inakzeptabel und weckte dieselben Sorgen, die schon 2003 zu Protesten gegen ein Sicherheitsgesetz unter Artikel 23 der Hongkonger Miniverfassung geführt hatten. Auf die Abgeordneten des Legislativrats wollten sich die Demonstrierenden auch dieses Mal nicht verlassen, denn aufgrund des sehr beschränkten Wahlrechts in Hongkong sind diese mehrheitlich pekingfreundlich, und so war das Risiko groß, dass der Gesetzesentwurf im Legislativrat durchgewinkt werden würde. Die Stadt erlebte die größten Proteste ihrer Geschichte. Protestteilnehmende wollten nicht nur verhindern, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Sonderverwaltungszone dem Justizsystem der Volksrepublik ausgesetzt werden könnten, sie interpretierten die Gesetzesnovelle auch als weiteren Beweis, dass die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam die Sonderverwaltungszone nicht gegen zunehmende Einflussversuche der chinesischen Zentralregierung verteidigen würde, obwohl Carrie Lam stets beteuerte, dass das Gesetz auf Eigeninitiative gründete und keiner Anweisung aus Peking folgte.

Die Protestbewegung hielt diese Darstellung der Genese des Auslieferungsgesetzes für unwahrscheinlich. Seit 2013 wird die Volksrepublik unter Partei- und Staatschef Xi Jinping zunehmend repressiv regiert. Xi steht für eine aggressive Außenpolitik, und in seiner Innenpolitik setzt er auf den absoluten Führungsanspruch der Partei. Unter ihm wurden nicht nur eine Reihe repressiver Gesetze verabschiedet (zum Beispiel zu den Themen Nichtregierungsorganisationen, Anti-Terror-Maßnahmen und Cyber-Sicherheit), der Volkskongress hob 2018 auch die Begrenzung der präsidialen Amtszeiten auf. Xi ist so zum mächtigsten Politiker Chinas seit Mao Zedong geworden, und er führt das Land nach leninistischem Vorbild. Sein „Gedankengut“ für eine neue Ära des Sozialismus chinesischer Prägung ist Staatsdoktrin. Er stärkte die Rolle der Propagandaabteilung der Partei und ließ auch die institutionellen Kapazitäten der Einheitsfrontabteilung massiv ausbauen. Die Folgen davon sind auch in Hongkong zu spüren (Cheung 2020). Während es in der Volksrepublik aufgrund des Repressionsapparats nahezu unmöglich ist, große Proteste zu organisieren, so blieb die Sonderverwaltungszone Hongkong ein in China einmaliger Ort der freien Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit – und damit aus Sicht des Parteistaates eine politische Gefahr. Insbesondere Forderungen nach Demokratie in Hongkong kann die Zentralregierung nicht ohne Risiko akzeptieren (siehe dazu Chen/Kinzelbach 2014). Genau darauf haben es prodemokratische Akteure in Hongkong aber abgesehen.

Bestürzt über dem Tod des 36-jährigen Demonstranten Marco Leung Ling-kit, der am 15. Juni 2019 vom Dach eines Einkaufszentrums stürzte, und ermutigt von den bisherigen Mobilisierungserfolgen, vereinte sich die Protestbewegung hinter fünf Forderungen (五大訴求, 缺一不可: „Fünf Forderungen, keine weniger“). Zusätzlich zur Rücknahme des Auslieferungsgesetzes setzte sich der Protest nun auch für eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt; für die Freilassung festgenommener Protestteilnehmender und gegen die Bezeichnung der Proteste als Aufstand ein (diese Forderung hat einen strafrechtlichen Hintergrund); die fünfte Forderung ging deutlich weiter: die Bewegung forderte nun auch freie, allgemeine und demokratische Wahlen. Am 1. Juli wurden diese fünf Forderungen im Hongkonger Legislativrat verlesen, nachdem Demonstrierende dort eingebrochen waren. Der Protest war mit einer reaktiven Forderung gestartet, und vier der fünf Kernforderungen blieben reaktiver Natur, doch die Bewegung einigte sich mit der fünften Forderung auf eine zukunftsorientierte Botschaft (siehe auch Veg 2020). Nicht zuletzt wegen dieser Wende in den Forderungen wurde die Protestbewegung zunehmend zu einer vertrackten politischen Herausforderung, und zwar nicht nur für die Hongkonger Regierung unter Carrie Lam, sondern auch für die chinesische Zentralregierung. Im September 2019 nahm Carrie Lam den Vorschlag für ein neues Auslieferungsgesetz zurück; nachdem sie so lange gezögert hatte, konnte dieser Schritt die Demonstrierenden jedoch nicht mehr besänftigen, und die Proteste gingen weiter. „Fünf Forderungen, keine weniger“ blieb das Motto.


3. Eskalation der Proteste

Carrie Lam zeigte sich uneinsichtig gegenüber den verbliebenen vier Forderungen der Bewegung, und Mitte November deutete Xi Jinping in einer Rede erstmals an, dass die Proteste in Hongkong das bis dato geltende Prinzip „Ein Land zwei Systeme“ infrage stellten.3 Die Botschaft war klar und verschärfte aus Sicht der Protestbewegung die Bedrohungslage. Allerdings gab es sehr unterschiedliche Ansichten über das weitere Vorgehen, und so ereilte die Hongkonger Protestierenden was die Soziologin Zeynep Tufekci in ihrem einschlägigen Buch Twitter and Tear Gas beschreibt: Netzwerkbasierte Proteste können sehr schnell zu beeindruckenden Massenveranstaltungen anwachsen, sie können auch sehr gut dezentrale Aktionen organisieren, aber es ist für sie weitaus schwieriger, Machtstrukturen aufzubrechen und grundlegende Reformen durchzusetzen, denn ihnen fehlt eine über Jahre gewachsene, robuste Entscheidungskultur, die in Pattsituationen und an entscheidenden Weggabelungen Konsens herstellen und auch mit Rückschlägen umgehen kann (Tufekci 2017). Nach Monaten des Protests und wiederholten Erfahrungen mit dem exzessiven Vorgehen der Polizei eskalierte im November 2019 die Gewalt in Hongkong. Daran hatte auch eine Minderheit der Demonstrierenden ihren Anteil.

Kurzfristig führten die Bilder von Straßenschlachten und der in Flammen stehenden Polytechnischen Universität zu mehr internationaler Aufmerksamkeit. Die Bewegung konnte diese Aufmerksamkeit zunächst sogar für sich nutzen, indem sie die Auseinandersetzung in Hongkong als alarmierendes Beispiel eines größeren Systemkonflikts zwischen dem autokratischen China und der demokratischen Welt darstellte. Betagte Veteranen des Hongkonger prodemokratischen Lagers wie der als „Vater der Demokratie“ bezeichnete Martin Lee erläuterten gegenüber der ausländischen Presse und in zahlreichen Gesprächen mit Politikerinnen und Politikern im Ausland ihren jahrzehntealten Kampf sowie die aktuelle Lage. Sie wurden nicht müde zu betonten, dass die Protestbewegung rechtsbasiert argumentieren und gewaltfrei bleiben müsse, weil sie nur mit der Macht des besseren Arguments gewinnen könne. Sie setzten auf Gewaltfreiheit, moralische Stärke und auf internationale Unterstützung. Insbesondere unter jüngeren Demonstrierenden gab es jedoch einige, die sich der gewaltfreien Strategie nicht uneingeschränkt verpflichten und nicht auf Druck aus dem Ausland warten wollten. Weil die Zentralregierung in Peking Versprechen gebrochen hatte und die von ihr unterzeichneten Verträge in Frage stellte, äußerte auch Martin Lee Verständnis für die Frustration und Radikalisierung der Jugendlichen.4 Die international bekannten jüngeren Gesichter der Bewegung waren sichtlich bemüht, radikale und moderate Stränge der Bewegung zusammenzuhalten. So predigte Joshua Wong zum Beispiel weiterhin Gewaltfreiheit, äußerte gleichzeitig aber auch Verständnis für die Gewaltbereitschaft unter Demonstrierenden, und machte die Polizei für die Eskalation verantwortlich.5 Glacier Kwong, eine in Deutschland lebende Hongkongerin, die im Wechsel mit Joshua Wong regelmäßig eine Kolumne in der Zeitung „Die Welt“ schreibt, erläuterte im November ihre Sicht, dass Gewalt unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sei.6 Mit der Beschwörung von bewegungsweiter Solidarität – und zwar unabhängig von den jeweiligen Protesttaktiken, die einzelne Gruppen wählten – versuchte die unter Druck geratene Bewegung die ihr inhärenten Zentrifugalkräfte zu beherrschen.

Trotz der Gewaltausbrüche gewann am 24. November das prodemokratische Lager in einer Kommunalwahl 17 von 18 Distriktvertretungen in Hongkong. Tatsächliche politische Macht geht mit diesen Posten nicht einher, trotzdem stärkte der Wahlsieg der Protestbewegung den Rücken, und er eröffnete die Möglichkeit für eine Deeskalation, die jedoch ungenutzt verstrich. Kurz darauf stellte sich die Regierung Trump auf die Seite der Protestbewegung: Der US-amerikanische Präsident unterzeichnete am 27. November den Hong Kong Human Rights and Democracy Act, eine Verordnung die den Druck auf Peking erhöhte, auch wenn sie vor allem symbolischer Natur war, weil die darin aufgelisteten Selbstverpflichtungen bereits durch andere Verordnungen der USA abgedeckt waren. Das betrifft zum Beispiel die Möglichkeit, Einreisesperren für Verantwortliche von schweren Menschenrechtsverletzungen zu verhängen (ebenfalls enthalten im US-amerikanischen Global Magnitsky Human Rights Accountability Act aus dem Jahr 2016), sowie die Verknüpfung von Hongkongs vorteilhaftem Handelsstatus mit Chinas Respekt für den politischen Sonderstatus der Stadt (siehe United States-Hong Kong Policy Act des Jahres 1992). Die Unterstützung durch die Trump-Regierung blieb so unberechenbar wie zweischneidig, denn nun konnten die Demonstrierenden als Marionetten Amerikas verunglimpft werden. Hongkong drohte im geopolitischen Wettstreit zwischen den USA und China zerrrieben zu werden.

Die Stärken der Bewegung blieben ihre Mobilisierungsmacht und die Fähigkeit zur taktischen Innovation, aber auch die Schwäche einer netzwerkbasierten, führungslosen Bewegung wurde in dieser Zeit immer deutlicher: Niemand konnte alle Protestteilnehmenden hinter einer Strategie vereinen. Obwohl die Gewalteskalation nicht direkt das Ende der Bewegung markierte, so waren diese Entgleisungen dennoch ein wichtiger Wendepunkt. Letztlich kam die Eskalation den Gegnern der Bewegung zugute. Die Regierung in Hongkong konnte mit Verweis auf das Chaos ein strikteres Vorgehen rechtfertigen, und vor allem war das politische Risiko einer repressiven Antwort seitens der Zentralregierung in Peking nun deutlich kleiner als zuvor. In der Repressionsforschung dominiert nach wie vor die Annahme, dass repressive Akteure Kosten-Nutzen Kalkulationen anstellen (siehe Davenport 2007, Poe 2004), und es ist wahrscheinlich, dass solche Abwägungen auch das Vorgehen der Hongkonger Regierung und der chinesischen Zentralregierung gegen die Proteste prägten. Wenngleich die gewaltbereiten Elemente der Bewegung die Verantwortung für ihr Handeln selbst tragen müssen, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Protestbewegung auch mit agents provocateurs unterwandert wurde. Der Einsatz einer derartigen, klandestinen Taktik ist leicht zu organisieren und deutlich weniger riskant als die offene Gewaltanwendung gegen friedlich demonstrierende Menschen.

Wie Erica Chenoweth und Maria J. Stephan in ihrem Buch Why Civilian Resistance Works erläutern, haben gewaltfreie Bewegungen den strategischen Vorteil, dass sie Loyalitätsverschiebungen innerhalb der Sicherheitskräfte begünstigen, viele Personen einbinden können, und eine gewaltsame Niederschlagung seitens der Machthaber riskanter machen (Chenoweth/Stephan 2011: 11). Allerdings ist es bei großen Protestbewegungen nicht einfach, die nötige Disziplin für Gewaltfreiheit zu organisieren; dies gilt umso mehr für dezentral organisierte, netzwerkbasierte Protestbewegungen. Die Hongkonger hatten sich dem Motto „Be water, my friend.“ verschrieben, aber es gelang ihnen auf Dauer nicht, die Schläge der Polizei ins Leere laufen zu lassen und selbst gewaltfrei zu bleiben. Und so verbesserte sich zusehends die politische Opportunitätsstruktur für ihre Gegner. Die Opportunitätsstruktur der Protestbewegung hingegen verschlechterte sich.


4. Corona-Pandemie und ein neues Sicherheitsgesetz

Weitere Mobilisierungshürden brachte ein externer Schock: der neue Coronavirus. Gesundheitspersonal in Hongkong erhielt frühzeitig Hinweise von Kolleginnen und Kollegen in der Volksrepublik, Mitte Januar wurde bekannt, dass die Krankheit von Mensch zu Mensch übertragen wird, und kurz darauf wurde der erste Fall in Hongkong gemeldet. Noch im selben Monat rief die Regierung den Notstand aus. Anfang Februar drohten Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der staatlichen Krankenhäuser mit Streik, sollte die Grenze zur Volksrepublik nicht geschlossen werden. Die Menschen in Hongkong waren aus Zeiten der SARS-Pandemie in den Jahren 2002/2003 im Umgang mit einem neuen Coronavirus erfahren; sie reagierten schnell und diszipliniert und konnten die Zahlen so zunächst niedrig halten. Massenproteste wie sie am Neujahrstag noch realisiert wurden, waren in diesem Kontext plötzlich nicht mehr möglich. Über soziale Medien wurden jedoch weiterhin kleinere Aktionen wie zum Beispiel Flashmobs organisiert. Letzteres wurde erst Ende März schwieriger, als zur Pandemiebekämpfung Gruppenversammlungen von mehr als vier Personen in der Öffentlichkeit verboten wurden.7 Eine weitere Form der Konfrontation gewann in dieser Zeit an Bedeutung: der sogenannte gelbe Einkaufszone (黃色經濟圈). Dafür wurden Geschäfte, Restaurants und andere Unternehmen in Online-Foren farblich markiert. Gelbe Unternehmen seien Unterstützer der Protestbewegung, blaue sympathisierten mit der Polizei, rote seien mit der Kommunistischen Partei Chinas assoziiert und schwarze gehörten der Partei. Als neutral eingestufte Unternehmen wurden grün markiert. Anhänger der Protestbewegung und der Demokratie sollten ihr Geld nur im eigenen Lager ausgeben. So versuchte die Bewegung andere, nämlich wirtschaftliche, Machtressourcen zu entwickeln. Ebenfalls wurden Unterstützernetzwerke für inhaftierte Protestteilnehmende weiter ausgebaut, die zum Beispiel Rechtsbeistand organisieren aber auch bei der Arbeitssuche nach Freilassungen helfen sollen.

Die Zentralregierung in Peking hatte in dieser Zeit mit der Pandemiebekämpfung im eigenen Land genug zu tun, und sah von einer weiteren Eskalation ab; kurzzeitig sah es sogar so aus, dass Xi Jinping innerhalb der Partei an Rückhalt verlieren könne. Prominente Intellektuelle brachten ihren Unmut zum Ausdruck. Die Schriftstellerin Fang Fang, zum Beispiel, veröffentlichte ab Ende Januar Tag für Tag ein Online-Tagebuch aus der gesperrten Stadt Wuhan, in dem sie die Behörden kritisierte. Und nachdem Xi für eine längere Zeit nicht mehr öffentlich gesichtet worden war, wagte der bekannte Verfassungsrechtler Xu Zhangrun Anfang Februar mit seinem Essay „Wütende Menschen haben keine Angst mehr“ (愤怒的人民已不再恐惧) ungewöhnlich direkte Kritik an Xis Umgang mit der Corona-Krise.8 Ein weiterer Verfassungsrechtler, Zhang Xuezhong, forderte im Mai den Nationalen Volkskongress auf der digitalen Plattform WeChat auf, in seiner anstehenden Sitzung einen Transitionsprozess in Gang zu bringen und für China eine neue, demokratische Verfassung zu entwickeln. Diese außergewöhnliche Kritik an Xi Jinping und der Einparteienherrschaft wurde auch in Hongkong mit Aufmerksamkeit verfolgt.9 Xis Vision einer neuen Ära des Sozialismus chinesischer Prägung wurde nun zeitgleich sowohl von der großen Protestbewegung in Hongkong als auch von einzeln agierenden, aber sehr bekannten kritischen Stimmen innerhalb des Festlands herausgefordert. Ein Überschwappen der Hongkonger Protestbewegung auf das chinesische Festland blieb weiterhin unwahrscheinlich, aber immerhin denkbar. Doch als der Nationale Volkskongress coronabedingt mit Verspätung Ende Mai in Peking tagte, wurde schnell deutlich, dass Xi fest im Sattel saß, und nun die Zeit für gekommen sah, in Hongkong durchzugreifen. Mit nur einer Gegenstimme und sechs Enthaltungen beauftragte der Nationale Volkskongress den Ständigen Ausschuss, ein Nationales Sicherheitsgesetz für Hongkong auf den Weg zu bringen. Wenngleich der Text des Gesetzes noch nicht vorlag, war klar, dass ein solches Gesetz die politische Unabhängigkeit Hongkongs stark einschränken und den Grundrechteschutz in der Stadt aus den Angeln heben würde.

Kurz darauf, und erstmals seit drei Jahrzehnten, wurde in Hongkong die am 4. Juni jährlich stattfindende Gedenkveranstaltung für die Opfer des Tiananmen-Massaker verboten. Die Hongkonger Gesundheitsministerin Sophia Chan verwies auf das durch die Pandemie begründete Versammlungsverbot und bestritt politische Beweggründe. Politikerinnen und Politiker des prodemokratischen Lagers wie zum Beispiel Claudia Mo warfen der Hongkonger Regierung allerdings vor, die Corona-Pandemie für politische Zwecke zu missbrauchen.10 Tausende widersetzten sich dem Verbot und versammelten sich wie jedes Jahr, aber diesmal unter Beachtung des Abstandsgebotes und mit Mund-Nase-Bedeckung. Um 9 Minuten nach 8 schwiegen die Menschen für 64 Sekunden – symbolhaft wurde so an den 4.6.‘89 erinnert. Die Corona-Pandemie erschwerte den Protest, beendete ihn jedoch nicht. Eine Antwort folgte prompt, und zwar in Form von Festnahmen. Man-Kei Tam, der Chef des Hongkonger Büros von Amnesty International, verurteilte die Festnahmen als den jüngsten Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Hongkonger Bürgerinnen und Bürger, und er zog eine Verbindung zwischen dem Gebaren der Hongkonger Behörden und dem von Peking angekündigten neuen Sicherheitsgesetz, das an Orwells düstere Vision eines Überwachungsstaates erinnere.11

Die Zentralregierung in Peking wartete nicht lange mit dem nächsten repressiven Schritt. Deutlich schneller als befürchtet worden war, wurde das Nationale Sicherheitsgesetz am 30. Juni in Peking verabschiedet und trat in Hongkong am 1. Juli in Kraft – just an dem Tag, an dem die Stadt 23 Jahre zuvor unter dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ wieder in die Volksrepublik integriert worden war. Die Symbolik war schwer zu übersehen, und der Zeitpunkt für den Angriff auf Hongkongs Autonomie war klug gewählt. Denn die Regierung in London – Chinas Vertragspartner in der gemeinsamen Erklärung zu Hongkong – war mit dem Brexit und der Corona-Pandemie beschäftigt, die auch den Rest Europas sowie die Vereinigten Staaten von Amerika fest im Griff hatte. China hingegen hatte die Infektionsketten mittlerweile unter Kontrolle, und die schärfsten Kritiker im Festland waren durch Festnahmen mundtot gemacht worden. In der Breite der chinesischen Bevölkerung war keine Sympathie für die Hongkonger Protestbewegung erkennbar, im Gegenteil. Nachdem in der Volksrepublik Nachrichten über die Massenproteste zunächst unterbunden worden waren, sorgte die Propagandaabteilung der Partei nach den Gewaltexzessen dafür, dass über die Proteste berichtet wurde, und zwar mit dem Tenor, dass in Hongkong vom Ausland gesteuerte Aufwiegler die Souveränität und Sicherheit Chinas mit terroristischen Mitteln untergraben würden, und dass diese Vorgänge von Peking nicht länger toleriert werden könnten. Die Bilder von Straßenschlachten, zerstörten Geschäften und brennenden Universitätsgebäuden unterstützen dieses Narrativ.

Bilder einer gewaltvollen Niederschlagung durch die Volksbefreiungsarmee wären dennoch mit einem großen politischen Risiko einhergegangen. Der von Peking gewählte Weg, die Protestbewegung über ein von der Zentralregierung aufoktroyiertes, repressives Gesetz anzugreifen, war deutlich weniger riskant und erwies sich als durchaus wirkungsmächtig. Der Text des Nationalen Sicherheitsgesetzes war bis zum Inkrafttreten geheim gehalten worden, und nach der Veröffentlichung zeigten die vage gehaltenen Straftatbestände umgehend Wirkung. Bereits am ersten Gültigkeitstag, dem 1. Juli 2020, wurden Demonstrierende mit Verweis auf das neue Gesetz verhaftet. Mehrere prominente Aktivisten setzten sich ins Ausland ab, und innerhalb der Protestbewegung brach Hoffnungslosigkeit und Furcht aus. Die letzte aussichtsreiche politische Chance waren nun die für September geplanten Wahlen des Legislativrats; dieser wurde zwar nicht allein auf der Basis freier und demokratischer Wahlen zusammengesetzt, aber das prodemokratische Lager malte sich mit Blick auf die zur Wahl stehenden Sitze gute Chancen aus. Befürchtet wurde, dass die prominentesten prodemokratischen Köpfe mit Anklagen unter dem Sicherheitsgesetz von dieser Wahl disqualifiziert werden würden, tatsächlich kam es noch schlimmer: Ende Juli gab Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam bekannt, dass die Wahl wegen der Corona-Pandemie um ein ganzes Jahr verschoben werden würde. Im November 2020 sah sich das pro-demokratische Lager im Legislativrat gezwungen, geschlossen zurückzutreten und sich zur außerparlamentarischen Opposition zu erklären.12


5. Ereignisdaten und Social-Media-Analyse

Die Zu- und Abnahme der Mobilisierungsmacht der Hongkonger Protestbewegung von 2019/2020 soll nun anhand von zwei Datensätzen nachvollzogen werden. Der erste untersucht die tatsächliche Mobilisierungsmacht anhand von Protestereignissen. Charles Tilly und Sidney Tarrow folgend werden solche Ereignisse gezählt, in denen die Herausforderer mit ihren Gegnern interagieren, und bei denen Dritte (wie zum Beispiel Medien) über diese Interaktion berichten (Tilly/Tarrow 2015: 39).

Wenngleich die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz erst mit der für Juni angesetzten zweiten Lesung an Fahrt aufnahmen, so wurde in dieser Erhebung ein längerer Zeitraum, nämlich Dezember 2018 bis September 2020, abgedeckt.13 Alle hier gezählten Protestereignisse wurden in mindestens zwei Quellen identifiziert, wobei mindestens eine Quelle ein Medienbericht sein musste. Im Betrachtungszeitraum ereigneten sich viele Proteste in Hongkong, die von verschiedensten Organisatoren initiiert wurden, unterschiedliche Ziele formulierten, und sich hinsichtlich ihrer Größe und Protestformen (Repertoire) unterschieden. In dem hier gezeigten Diagramm sind – unabhängig von Repertoire, Umfang und Organisation – nur solche Proteste gezählt, die sich gegen das Ausweisungsgesetz richteten, sich für die fünf Ziele der Protestbewegung einsetzten und/oder die Autokratisierung von Hongkonger Behörden beklagten. Proteste, die sich auf andere Themen bezogen, z. B. auf die Pandemie-Politik, sowie Gegenproteste zur Befürwortung des Auslieferungsgesetzes wurden von der Zählung ausgeschlossen. Kein Unterschied wurde zwischen gewaltfreien oder gewaltvollen Protestformen gemacht, das heißt der Datensatz umfasst Gedenkveranstaltungen, friedliche Märsche, Kundgebungen, das Bilden einer Menschenkette, Flashmobs oder das Aufhängen eines Transparents im öffentlichen Raum ebenso wie Sitzblockaden oder Konfrontationen mit Sicherheitskräften bis hin zu Straßenschlachten. Wirtschaftliche Aktionen (wie die oben erwähnte gelbe Einkaufszone oder auch die Unterstützung der oppositionellen Zeitung Apple Daily durch Kauf von Aktien an der Börse) sowie Proteste im Ausland, die mit der Bewegung sympathisierten, wurden ausgeschlossen.

Die 280 gezählten Ereignisse wurden in sehr große Proteste (über eine Million Teilnehmende), große (mehr als 100.000 bis eine Million Teilnehmende), mittlere (mehr aus Tausend aber weniger als 100.000 Teilnehmende), kleine (mehr als 100 und bis zu 1.000 Teilnehmende) und sehr kleine Proteste (100 oder weniger Teilnehmende) unterteilt. Demzufolge gab es vier sehr große Ereignisse, 16 große Ereignisse, 82 mittlere Ereignisse, 91 kleine und 87 sehr kleine Ereignisse.

Abbildung 1: Eigene Datenerhebung14

Die Grafik bildet die sich wandelnde Mobilisierungsmacht der Protestbewegung ab. Die Corona-Pandemie wirkte sich negativ auf die Mobilisierungsmacht der Bewegung aus, aber erst nach dem Inkrafttreten des Nationalen Sicherheitsgesetzes bricht sie zusammen. Um die Auswirkung der Corona-Pandemie und die repressive Wirkung des Nationalen Sicherheitsgesetzes noch genauer zu erfassen, lohnt ein Blick in Social-Media-Daten. Diese können uns einen Hinweis auf die Reaktion von einzelnen Protestteilnehmenden auf wichtige Ereignisse geben. Konkret können wir an den abfallenden Mitgliedszahlen von ausgewählten Telegram-Gruppen im Zeitraum Januar bis September 2020 die Demobilisierung der Protestteilnehmenden zeigen (zu Mobilisierung und Demobilisierung siehe Tilly/Tarrow 2015: 38). Telegram ist ein Instant-Messenger-Dienst, der für die Hongkonger Protestbewegung in den Jahren 2019-2020 eine herausragende Rolle bei der Organisation des dezentralen Protests spielte. Die nach Mitgliederzahlen größte Telegram-Gruppe der Protestbewegung nutzte das Kürzel Scottscout und nennt sich mit vollem Namen Hauptnachrichtenkanal zertifizierter Wachposten (認證哨兵消息主頻道). Scottscout bietet – ähnlich wie andere Telegram-Gruppen der Bewegung – allgemeine Vor-Ort-Informationen via Live-Streaming und Sofortnachrichten. Die Gruppe ist offen für alle, die sich zeitnah über Protestgeschehnisse informieren, von Eskalationen erfahren und nächsten Schritte planen wollen. Die geposteten Informationen verfallen nach fünfzehn Minuten.

Abbildung 2: Die Daten wurden von Telegram Analytics übernommen.15

In der Grafik wird ein sehr klarer Demobilisierungstrend deutlich, und auch zentrale Ereignisse sind ablesbar. Stärkere Rückgänge stechen am 19. Januar, 29. März, 21. Mai, 30. Juni und 27. August hervor. Eine ähnliche Entwicklung, also ein stetiger Rückgang mit erkennbaren Einbrüchen an den genannten Tagen, lässt sich auch in anderen Telegram-Gruppen beobachten, wobei die Einbrüche im Januar und März in der Regel weniger deutlich sind.16 Diese Rückgänge stehen im Zusammenhang mit folgenden Ereignissen: Im Januar war von chinesischen Behörden bestätigt worden, dass sich das Coronavirus von Mensch zu Mensch überträgt; im März veröffentlichte die Hongkonger Regierung Auflagen zur Pandemiebekämpfung, inklusive zu Versammlungen im öffentlichen Raum; im Mai gab die Zentralregierung in Peking Pläne für das Nationale Sicherheitsgesetz bekannt, im Juni wurde es verabschiedet, und im August wurde der Administrator einer anderen Telegram-Gruppe, des sogenannten SUCK-Channels17, festgenommen. Ihm wurde Brandstiftung vorgeworfen. Der Vorsitzende des Büros für Cybersicherheit und Technologiekriminalität, Wilson Tam Wai-shun, gab daraufhin bekannt, dass die Polizei Telegram-Gruppen in den vielen Monaten des Protests genau beobachtet habe und weitere Festnahmen nicht ausgeschlossen seien.18 Um die Spuren ihrer Beteiligung an den Protesten – und insbesondere an Eskalationen – zu verwischen, löschten viele Menschen daraufhin gepostete Inhalte und Mitgliedschaften. In den Mitgliedsdaten des SUCK-Channels wird die demobilisierende Wirkung der Festnahme besonders deutlich:

Abbildung 3: Die Daten wurden von Telegram Analytics übernommen.19

Über die Monate des Protests hatte es viele Festnahmen gegeben, doch nach der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes machte sich Angst breit, die Bedrohungsszenarien für inhaftierte Protestteilnehmende waren unter dem neuen Gesetz ganz andere als zuvor. Und so zeigt sich, dass in einem repressiven Kontext die Festnahme einzelner Personen auch dezentral organisierte Proteste demobilisieren kann. Was wenige Wochen zuvor noch ein Vorteil der Protestbewegung gewesen war – ihre netzwerkbasierte Organisationsstruktur – war nun plötzlich ein großer Nachteil, denn die Protestierenden hatten ihre Beteiligung in den Telegram-Gruppen selbst dokumentiert und der Polizei damit sehr viele Daten geliefert. Interessant ist auch, dass in beiden Gruppen die Ankündigung des Nationalen Sicherheitsgesetzes Ende Mai zunächst zu einem deutlichen Zuwachs an Mitgliedern führte. Die Hongkonger Protestbewegung konnte angesichts der neuen Bedrohung einen letzten Mobilisierungserfolg verzeichnen. Dieser Effekt war jedoch vorübergehend, und der längerfristige, deutliche Demobilisierungstrend konnte nicht aufgehalten werden.


6. Fazit

Der Verlauf der Hongkonger Proteste in den Jahren 2019/2020 bestätigt zentrale Erkenntnisse der Bewegungs- und Repressionsforschung, nämlich dass Proteste, die über soziale Medien organisiert werden, sehr schnell mobilisiert werden können, ihre Stärke in taktischer Innovation und dezentralen Protestereignissen zeigen, weitreichende Reformen gegen den Willen mächtiger Gegenspieler aber schwer zu erringen bleiben, Repressionsentscheidungen einem Kosten-Nutzen-Kalkül folgen, friedliche Proteste sehr viele Menschen mobilisieren können, während Gewaltexzesse nicht nur die breite Mobilisierung gefährden, sondern den Gegnern einer Protestbewegung Angriffsflächen eröffnen, die eine repressive Antwort weniger riskant machen. Festnahmen einzelner Personen wirken sich je nach politischem Kontext unterschiedlich auf Mobilisierung und Demobilisierung aus. Sobald aber ein Klima der Angst etabliert ist, beschleunigen Festnahmen von Personen, die eine zentrale Rolle für die Organisation von Protesten spielen, die Demobilisierung. Im Falle Hongkongs gehörten neben Veteranen des prodemokratischen Lagers und jüngeren, international bekannten Gesichtern der Protestbewegung auch Administratoren von Telegram-Gruppen zu diesem Personenkreis.

In Ereignisdaten zum gesamten Protestzyklus lässt sich die Auswirkung der Corona-Pandemie auf das Protestgeschehen ablesen, jedoch brachte die Pandemie die Proteste nicht zum Erliegen. Erst das neue Nationale Sicherheitsgesetz, das die Zentralregierung in Peking in einem repressiven Akt Ende Mai/Anfang Juni 2020 durchsetzte, führte zu einer weitgehenden Demobilisierung. Der Verlauf der Hongkonger Proteste in den Jahren 2019/2020 gibt dennoch keinen Anlass, die strategische Logik der taktischen Flexibilität und der dezentralen Mobilisierung infrage zu stellen. Vielmehr war es die Unfähigkeit der Bewegung, unter schwierigen Bedingungen gewaltlose Disziplin aufrechtzuerhalten, und die Entschlossenheit eines übermächtigen Gegners, der zu ihrem vorläufigen Scheitern führte. Die Bewegung, die wie Wasser sein wollte, ging durch Feuer und versiegte.

Der weitere Verlauf bleibt ungewiss. Die Bewegung hinterlässt trotz ihres vorläufigen Endes eine stark politisierte Bevölkerung, die über sehr viel Protesterfahrung verfügt. Diese Basis wird zukünftige Mobilisierungsversuche erleichtern, auch wenn es im neuen Hongkong sehr schwer werden wird, denn seit der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes grassiert dort die Angst.


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1Mittlerweile hat die Volksrepublik den UN-Sozialpakt ratifiziert, den UN-Zivilpakt aber nicht; weiterhin gilt, dass der Zivilpakt in Hongkong rechtsverbindlich ist.

2Siehe https://www.reuters.com/article/us-hongkong-protests-pla-idUSKCN1UR3HK (Zugriff: 25.10.2020).

3Siehe http://www.xinhuanet.com/politics/2019-11/14/c_1125233663.htm und https://www.bbc.com/zhongwen/simp/chinese-news-50430393 (Zugriff: 25.10.2020).
4 Martin Lee hielt jedoch auch nach seiner Verhaftung an Gewaltfreiheit fest: https://www.dw.com/en/hong-kong-activist-martin-lee-i-know-justice-is-on-my-side/a-53195220 (Zugriff: 25.10.2020).

5Siehe Interview mit Joshua Wong: https://www.zeit.de/campus/2019-11/joshua-wong-honkgong-aktivist-polizeigewalt-demonstrationen-kommunalwahlen/seite-2 (Zugriff: 25.10.2020).

6Siehe https://www.welt.de/politik/ausland/article203763446/Hongkong-Wann-Gewalt-gerechtfertigt-ist-Glacier-Kwong.html (Zugriff: 25.10.2020).

7Siehe Ankündigung der Verordnung: https://www.info.gov.hk/gia/general/202003/28/P2020032800720.htm?fontSize=2 (Zugriff: 25.10.2020).

8Eine englische Version des Essays ist hier verfügbar: https://www.chinafile.com/reporting-opinion/viewpoint/viral-alarm-when-fury-overcomes-fear (Zugriff: 25.10.2020).

9Die Hongkonger South China Morning Post berichtete über beide Vorstöße, zu Xu Zhangrun siehe zum Beispiel https://www.scmp.com/news/china/politics/article/3049233/chinese-scholar-blames-xi-jinping-communist-party-not; zu Zhang Xuezhong siehe https://www.scmp.com/news/china/politics/article/3083863/chinese-scholar-calls-political-reform-criticising-tight (Zugriff: 25.10.2020).

10Siehe ein Spiegel-Interview mit Claudia Mo: https://www.spiegel.de/politik/ausland/hongkong-untersagt-gedenken-an-massaker-von-1989-kein-neues-tiananmen-a-d4da6698-21b7-4eb4-8b57-60de5313282a (Zugriff: 25.10.2020).

11Siehe https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/06/hong-kong-tiananmen-vigil-crackdown-another-cynical-attempt-to-curb-peaceful-dissent/ (Zugriff: 25.10.2020).

12Siehe https://www.scmp.com/news/hong-kong/politics/article/3109330/top-beijing-body-makes-patriotism-mandatory-hong-kong (Zugriff: 12.11.2020).

13Dieser Zeitraum entspricht dem Beginn des Gesetzgebungsverfahrens bis zum Zeitpunkt der Recherche für diesen Artikel.

14Mein Dank gilt der studentischen Hilfskraft Kelly Liu Kit Yin, die diese Ereignisdaten zusammentrug. Die hier dargestellten Informationen beruhen auf einer umfassenden Online-Recherche; ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht jedoch nicht. Weil es bei Angaben zur Größe der Proteste teilweise erhebliche Unterschiede zwischen den Schätzungen der Bewegung und jenen der Behörden gab, besteht eine Fehlerspanne, die nicht ausgeräumt werden konnte. Die Kategorisierung richtet sich nach der Medienberichterstattung; im Zweifel wurden die Angaben der Bewegung zugrunde gelegt.

15Die Daten sind unter folgendem Link verfügbar: https://cn.tgstat.com/ (Zugriff: 25.10.2020). Zur Verdeutlichung der Entwicklung wird nur ein Ausschnitt der Y-Achse gezeigt.

16Zum Beispiel die Telegram-Gruppen @scottscout2; @Reminder612; @therealhongkonger; @realtimenewsbroadcasts; @antiextraditionverifiednews; @hkmaplive; @dnlmcarrielam; @bignewsmaterial; @CivilHumanRightsFront; @jaifinddadmumtw; @canigosomeplacefun; @FindingHKer; @healthcarehk. Die Daten sind unter folgendem Link verfügbar: https://cn.tgstat.com/ (Zugriff: 25.10.2020).

17Diese Telegram-Gruppe wurde ursprünglich für eine spezifische Aktion erstellt: auf der Hauptstraße zum Flughafen sollte ein Stau herbeigeführt werden. Später wurden in dieser Gruppe weitere Maßnahmen gefordert, und zwar nicht nur friedliche. Anders als Scottscout wurden in dieser Gruppe keine Auskünfte über laufende Proteste und Eskalationen verbreitet, daher war ihr Informationsgehalt geringer, und sie konnte nur weniger Mitglieder binden.

18Siehe https://www.scmp.com/news/hong-kong/law-and-crime/article/3099336/hong-kong-protests-alleged-telegram-channel (Zugriff: 25.10.2020).

19Die Daten sind unter folgendem Link verfügbar: https://cn.tgstat.com/ (Zugriff: 25.10.2020). Zur Verdeutlichung der Entwicklung wird nur ein Ausschnitt der Y-Achse gezeigt.


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Die Autorin

Katrin Kinzelbach ist Professorin für Internationale Politik der Menschenrechte und Ko-Direktorin des MA Human Rights an der Universität Erlangen-Nürnberg.

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